Mensch: Entwicklungslinien in Afrika

Mensch: Entwicklungslinien in Afrika
Mensch: Entwicklungslinien in Afrika
 
Während die Entwicklung in Europa von den Anteneandertalern zu den immer massiger gebauten späten Neandertalern führte, zeichnet sich für den afrikanischen Kontinent eine völlig andere Entwicklungslinie ab. Hier lassen die Funde der letzten 600 000 Jahre eine zunehmende »Modernisierung« der Schädelform erkennen. Obwohl der Prozess relativ kontinuierlich verlief, lassen sich doch verschiedene Entwicklungsgrade unterscheiden. So entstand aus dem späten Homo erectus der früh-archaische Homo sapiens, der sich dann über eine spät-archaische Form schließlich zum anatomisch modernen Homo sapiens entwickelte.
 
 Früher und später archaischer Homo sapiens
 
Mit einem Alter von rund 600 000 Jahren ist ein 1976 bei Bodo im Nordosten Äthiopiens entdeckter Schädel der bisher älteste Fund, der zum früh-archaischen Homo sapiens gezählt wird. Obwohl der Schädel sehr dickwandig und das Gesicht ausgesprochen massiv ist, weist das Fossil doch im Vergleich zu Homo erectus eine Reihe deutlich fortschrittlicher Merkmale auf. Hierzu zählen insbesondere ein großes Hirnschädelvolumen von mehr als 1300 cm3, eine breite Stirn und ein schwächer entwickelter Überaugenwulst.
 
Die dem Fund von Bodo zeitlich folgenden Fossilien des früharchaischen Homo sapiens umspannen die Periode von vor ungefähr 500 000 bis 250 000 Jahren. Zu ihnen gehört ein fast vollständiger Schädel, der bereits 1921 zusammen mit verschiedenen andern Skelettresten und Steinwerkzeugen in einer Zinkmine bei Kabwe in Sambia zum Vorschein kam. Wenngleich das Gesicht weniger massig vorspringt als bei dem Fund von Bodo und das Hirnschädelvolumen knapp 1300 cm3 beträgt, verfügt dieser Schädel mit seinem kräftigen Überaugenwulst und der flachen, stark fliehenden Stirn noch über deutlich archaische Merkmale. So trug der Fund bis in die 1970er-Jahre zum Bild eines entwicklungsgeschichtlich rückständigen Afrika bei, zumal sein Alter damals auf nur 40 000 Jahre geschätzt wurde. Heute allerdings wird der Kabwe-Hominid auf ein Alter von mehr als 200 000 oder 300 000 Jahren datiert.
 
Ähnliche Kombinationen aus archaischen und fortschrittlichen Merkmalen finden sich bei weiteren Schädel- und Unterkieferfragmenten, die bei Saldanha (Südafrika) und am Ufer des Eyasi-Sees in Tansania gefunden wurden, sowie bei einem recht vollständigen Schädel aus der Nähe des Ndutu-Sees in der Serengeti-Ebene, ebenfalls in Tansania. So unterschiedlich dabei das Merkmalsmosaik bei den einzelnen Funden auch sein mag, weisen doch alle eindeutig in die Richtung der Anatomie des modernen Menschen. Die Schädelseitenwände etwa verlaufen nicht mehr wie bei Homo erectus schräg nach oben, sondern stehen annähernd parallel. Sowohl Gesicht als auch Überaugenwülste sind in ihrer Robustizität reduziert, und das Hinterhaupt ist weniger stark gewinkelt als bei Homo erectus. Vor allem aber drückt sich der wesentliche Fortschritt gegenüber Homo erectus in einem angestiegenen Hirnschädelvolumen aus, das im Allgemeinen über 1250 cm3 liegt.
 
Deutlich fortschrittlichere Fossilien, die den Entwicklungsgrad repräsentieren, aus dem schließlich der anatomisch moderne Mensch hervorging, sind 150 000 bis 250 000, vereinzelt sogar fast 300 000 Jahre alt. Der älteste dieser »fast-modernen« oder spät-archaischen Schädelfunde stammt aus der Nähe von Ileret am Turkana-See und wurde kürzlich mit der Uran-Thorium-Methode auf rund 270 000 Jahre datiert. Sein Hirnschädelvolumen beträgt rund 1400 cm3 und bis auf einen archaischen, aber stark reduzierten Überaugenwulst fällt der Schädel nahezu in die Variation des modernen Menschen. Ähnlich wie dieser Turkana-Fund stehen auch die fossilen Schädel von Laetoli (Tansania) und Florisbad (Südafrika) dicht an der Schwelle zu den Modernen, was auch für den Schädel mit der Fundbezeichnung »Omo Kibish 2« gilt. Er stammt aus Südäthiopien und zeichnet sich unter anderm durch eine besonders moderne Brauenregion aus. Auch der fast vollständig erhaltene Schädel von Eliye Springs, der 1982 am Westufer des Turkana-Sees gefunden wurde, ist nicht nur recht groß, sondern besitzt ungeachtet einiger archaischer Züge, etwa dem sehr breiten Hirnschädel, zahlreiche Ähnlichkeiten zur Anatomie des modernen Menschen.
 
Schließlich machen auch Überreste von mindestens drei Individuen aus der marokkanischen Jebel-Irhoud-Höhle deutlich, dass der spät-archaische Homo sapiens auch im nördlichen Afrika verbreitet war. Wie die ostafrikanischen Fossilien, so weisen auch diese 150 000 bis 200 000 Jahre alten Funde neben ursprünglichen Merkmalen deutliche Gemeinsamkeiten mit dem heutigen Menschen auf. So zeigt etwa der gut erhaltene Schädel von Jebel Irhoud 1 eine moderne Gesichtsform mit typischen Wangengruben, kombiniert mit einem noch mehr archaisch wirkenden Überaugenwulst.
 
 Älteste moderne Fossilien
 
Mit einem Alter von rund 150 000 Jahren stammen die ältesten Funde, die in allen wesentlichen Merkmalen als anatomisch modern zu bezeichnen sind, aus dem östlichen Afrika. Zu ihnen gehört ein vollständiger Hirnschädel, der bereits 1924 in Uferablagerungen des Blauen Nils, ungefähr 320 Kilometer südöstlich von Khartum (Sudan), gefunden wurde. Mit einem großen Hirnschädelvolumen, einer gewölbten Stirn und einer mäßig entwickelten Brauenregion ist dieser Fund grundsätzlich anatomisch modern. Allerdings verleihen ihm die durch krankhaftes Knochenwachstum stark seitlich vorspringenden Scheitelbeinhöcker eine ungewöhnliche Form. Nachdem das Alter des Schädels lange Zeit umstritten war, konnten in den letzten Jahren mittels moderner Datierungstechniken die am Schädel befindlichen Kalkbildungen sowie darin eingeschlossene Säugerzähne übereinstimmend auf rund 150 000 Jahre datiert werden.
 
Zu den bedeutenden Funden des frühen modernen Homo sapiens gehört daneben ein als »Omo-Kibish 1« bezeichnetes, teilweise erhaltenes Skelett, das aus der Kibish-Formation, jüngeren Ablagerungen im Gebiet des Omo-Flusses, in Äthiopien stammt. Diese Überreste wurden Ende der 1960er-Jahre in einer Schicht entdeckt, deren Alter anhand der Uran-Thorium-Methode auf 130 000 Jahre datiert wurde. Da die datierten Molluskenschalen aber dazu tendieren, nach der Ablagerung weiteres Uran aufzunehmen, könnte das tatsächliche Alter des Skeletts eher noch höher liegen. Die gefundenen Überreste deuten darauf hin, dass es sich bei dem Individuum um einen großen, kräftigen Mann handelte, der sich in seinem Körperbau nicht wesentlich von heutigen Ostafrikanern unterschied. Auch die erhaltenen Schädelregionen zeigen eine grundsätzlich moderne, wenngleich robuste Anatomie. In seiner ganzen Erscheinung ähnelt der mit rund 1430 cm3 großvolumige Schädel sogar dem der späteren Cro-Magnon-Menschen Europas. Eine weitere bedeutende Fundstelle mit frühen modernen Überresten liegt an der Mündung des Klasies River an der Südküste Afrikas; die dortigen Funde reichen bis etwa 120 000 Jahre zurück.
 
Entscheidend zu der oben behandelten großen Revision in der Datierung des subsaharischen »Middle Stone Age« und »Later Stone Age« haben die erneuten Grabungen in der Border Cave (Südafrika) in den frühen 1970er-Jahren beigetragen. Chronostratigraphische und sedimentologische Analysen ergaben, dass das Middle Stone Age hier über 150 000 Jahre zurückreicht. Von besonderem Interesse sind zwei dort 1941 entdeckte anatomisch moderne Fossilien, ein Schädel und ein Unterkiefer. Obwohl Unsicherheiten bestehen, aus welcher Schicht der Höhlenablagerungen diese beiden Fossilien kamen, deuten vorhandene Sedimentreste in kleinen Knochenspalten am Schädel auf eine Herkunftsschicht hin, die nach neueren Untersuchungen ein Alter von mindestens 90 000 Jahren haben dürfte.
 
Diese und weitere frühe Funde des modernen Menschen belegen, dass dieser in Afrika schon entstanden war, als in Europa noch nicht einmal die Entwicklung der Neandertaler abgeschlossen war.
 
Prof. Dr. Günter Bräuer und Jörg Reincke
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Mensch: Entwicklungslinien im Fernen Osten und in Australien
 
 
Bräuer, Günter: Die Entstehungsgeschichte des Menschen, in: Brockhaus. Die Bibliothek. Grzimeks Enzyklopädie Säugetiere. Band 2. Leipzig u. a. 1997.
 Bräuer, Günter: Vom Puzzle zum Bild. Fossile Dokumente der Menschwerdung, in: Funkkolleg Der Mensch. Anthropologie heute, herausgegeben vom Deutschen Institut für Fernstudienforschung an der Universität Tübingen. Heft 2. Tübingen 1992.
 
Die ersten Menschen. Ursprünge und Geschichte des Menschen bis 10000 vor Christus, herausgegeben von Göran Burenhult. Aus dem Englischen. Hamburg 1993.
 
Evolution des Menschen, herausgegeben von Bruno Streit. Heidelberg 1995.
 
Evolution des Menschen, Band 2: Die phylogenetische Entwicklung der Hominiden, bearbeitet von Peter Schmid und Elke Rottländer. Tübingen 1989.
 Fagan, Brian M.: Aufbruch aus dem Paradies. Ursprung und frühe Geschichte der Menschen. Aus dem Englischen. München 1991.
 
GEO Wissen, Heft 2/1998: Die Evolution des Menschen. Hamburg 1998.
 Henke, Winfried / Rothe, Hartmut: Paläoanthropologie. Berlin u. a. 1994.
 
Hominid evolution. Past, present and future, herausgegeben von Phillip V. Tobias. Neudruck New York 1988.
 Johanson, Donald / Edey, Maitland: Lucy. Die Anfänge der Menschheit. Aus dem Amerikanischen. Neuausgabe München u. a. 21994.
 Kingdon, Jonathan: Und der Mensch schuf sich selbst. Das Wagnis der menschlichen Evolution. Aus dem Englischen. Lizenzausgabe Frankfurt am Main u. a. 1997.
 Leakey, Richard: Die ersten Spuren. Über den Ursprung des Menschen. Aus dem Englischen. München 1997.
 Lewin, Roger: Die Herkunft des Menschen. Aus dem Englischen. Heidelberg u. a. 1995.
 Lewin, Roger: Spuren der Menschwerdung. Die Evolution des Homo sapiens. Aus dem Englischen. Heidelberg u. a. 1992.
 Reader, John: Die Jagd nach den ersten Menschen. Eine Geschichte der Paläanthropologie von 1857-1980. Aus dem Englischen. Basel u. a. 1982.
 Schrenk, Friedemann: Die Frühzeit des Menschen. Der Weg zum Homo sapiens. München 1997.
 Tattersall, Ian: Puzzle Menschwerdung. Auf der Spur der menschlichen Evolution. Aus dem Englischen. Heidelberg u. a. 1997.
 
Vom Affen zum Halbgott. Der Weg des Menschen aus der Natur, herausgegeben von Wulf Schiefenhövel u. a. Stuttgart 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

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